Aufruf

75 Jahre Befreiung: Es gibt noch viel zu tun!

Befreiung heißt, …

… dem zu gedenken, was war

Wir danken den Alliierten und dem Widerstand, die unter großen Opfern das NS-System niederrangen, welches der gesellschaftliche Mainstream Deutschlands erschaffen und auf die Welt losgelassen hatte. Wir gedenken der Millionen Opfer von Shoah und Porajmos, “Euthanasie” und Konzentrationslagersystem – Praxen deutscher Vernichtungslogik, welche in der Befreiung ihr Ende fanden. Wir feiern das Ende des Zweiten Weltkrieges, mit dem Deutschland den halben Globus bedrohte, zerstörte und mit Elend und Terror überzog – Ausdruck und Folge deutscher Allmachtsfantasie. Wir feiern das Ende eines dunklen Kapitels der Geschichte.

… zu sehen, was ist

Es gibt also einiges zu feiern an diesem Jubiläum. Doch wir würden uns der Verantwortung, die der 8. Mai 1945 hinterlassen hat, entziehen, wenn wir über all das schweigen würden, von dem die Alliierten uns nicht befreien konnten:

Zwar brachten sie vor 75 Jahren Nazideutschland militärisch zu Fall, doch die zugrundeliegenden menschenverachtenden Ideologien wie Rassismus, Antisemitismus, nationalistisches und völkisches Denken, Sozialchauvinismus, Ableism sowie die verschiedenen Formen patriarchaler Gewalt sind noch immer Teil vieler deutscher Identitäten, Teil deutscher Kultur und staatlicher Institutionen! Die lediglich unterbrochene, aber nie beendete Kette rechter Terrornetzwerke, Brandstiftungen und Morde sind nur die sichtbarsten Auswüchse, denen gegenüber sich der Staat desinteressiert bis machtlos zeigt – wenn er sie nicht gerade verleumdet, relativiert und aktiv aufbaut.

Entgegen der immer wieder aufgewärmten Rhetorik vom Hufeisen der Extremismustheorie sind diese Zustände aber weder eine relativ neue Erscheinung noch ein Problem am gesellschaftlichen „Rand“. Auch die angebliche “Mitte der Gesellschaft” trägt und reproduziert sie täglich, distanziert sich zwar manchmal wortgewaltig von ihnen, nutzt sie dann aber doch, um ihre Macht und Privilegien zu sichern. Die Folgen: Unsere Gesellschaft verletzt und tötet – an Grenzen, in Knästen, in scheinbar weit entfernten Ländern, aber auch in Schulen, Behörden, im Internet und auf der Straße. Angegriffen werden jene von uns, die mit den Ideologien der Abwertung und Vernichtung künstlich an den Rand gedrängt werden oder die sich ihnen entgegensetzen.

… die Zukunft zu erkämpfen!

Wenn wir am 8. Mai die Befreiung feiern, dann tun wir das also auch mit Wut auf die bestehenden Verhältnisse, vielleicht mit Angst und Trauer in Anbetracht der Verschiebung des gesellschaftlichen Klimas nach rechts, in jedem Fall aber auch mit Entschlossenheit und Hoffnung im Kampf für eine bessere Zukunft für alle. Wir sind auch Teil dieser Gesellschaft, wir können sie gestalten und verändern und wo es sein muss, Sand in ihrem Getriebe sein. Wir sind Teil der Geschichte, wir lernen aus ihr und schreiben sie weiter und halten das jenen entgegen, die sie verfälschen oder vergessen wollen. Wir schaffen und verteidigen Räume, in denen ein anderes gesellschaftliches Miteinander wachsen kann, in denen Menschen Schutz finden, sich organisieren und an einer anderen Welt basteln können. Solche Freiräume sind immer wieder Ziel von Repression und rechter Gewalt. Wir wollen an diesem Tag auch ihre Wichtigkeit unterstreichen und unsere Solidarität zum Ausdruck bringen.

Wir setzen uns mit unseren eigenen Verstrickungen in Ideologien der Abwertung auseinander und lernen gemeinsam sie zu überwinden. Wir schaffen neue Allianzen für eine Gesellschaft, die keine Ränder kennt und keine Grenzen. Wir schauen nicht weg und stehen auf gegen Diskriminierung, Hass und Hetze, gegen den Rechtsruck und seinen Alltag. Wir denken die Befreiung weiter: Sie muss täglich erkämpft werden bis alle gut und sicher leben können! Wir feiern gemeinsam den 8. Mai, um für all das ein Zeichen zu setzen.

Wir laden euch nach Lichtenberg ein!

Es kommt nicht alle Tage vor, dass wir lautstark und feiernd durch Lichtenberg ziehen können. Auch wenn sich im Kiez schon manches getan hat, ist er immer noch ein Hotspot rechter Gewalt, Treffpunkt für organisierte Nazis und Anlaufpunkt für ihre Mobilisierungen. Doch er ist auch der Wohnort tausender Menschen mit Rassismuserfahrung, ein Ort von Widerstand gegen rechte Hegemonie, von Selbstorganisierung und Solidarität. Außerdem ist er zunehmend auch ein Bezirk, in dem um Freiräume gekämpft wird.

Wenn unsere Parade auf dem Weg zum Ort der Kapitulation Nazideutschlands durch Lichtenberg zieht, dann danken wir euch, dass ihr mit uns feiert, aber auch, dass ihr mit uns hinschaut, nachhakt und aktiv werdet.

Startpunkt: 8. Mai 2020 ++ 14 Uhr ++ Berlin-Ostkreuz (Hauptstraße/Kynaststraße)